Jillian Weise, Amputees Guide to Sex, SOFT SKULL PR, 2017
Jemand, der mit/durch seine/r Amputation tief über das Sexleben, den Körper und sich selbst nachdenkt, bringt mir meinen Körper näher. Gedichte über Nähe, über das Verschwinden und das offensichtlich Fehlende. Die Sprache versucht einer Unsagbarkeit näher zu kommen, im Wissen, das Gesagte wird das Unsagbare nicht sagbar machen – unsere Position dazu aber verschieben. Eine große Empfehlung, die ich machen möchte, und vor allem weitergeben möchte, dieses Buch wurde mir vor Jahren empfohlen, zum Glück ist mein Gedächtnis tief. Danke für die Empfehlung und diesen Gedichtband.
Friederike Mayröcker, Tod durch Musen, Luchterhand, 1973
Wenn dieses Kaliber Dichterin genannt wird, spricht man von Grande Dame. Wer die Musen tötet wird zur Grande Dame, damit bin ich einverstanden. Und wer durch die Musen stirbt? Ich wollte mich mal, nach ihrem Tod mal mit frühen Werken der Künstlerin beschäftigen. Und ich habe große Freude an dem Sprachspiel gefunden. Eine Sprache, die zwischen konkret und surreal beides sein kann. Tod durch Musen ist eigentlich ein ewiger Scheideweg, bei dem jedes gesprochene Wort neu auf eine neue Waagschale gelegt werden kann. Tod durch Musen aufs Neue.
Ludwig Fels, Blaue Allee, Versprengte Tartaren, Piper, 1988
Ein Gedichtband in politischer Radikalität und ganz persönlich in seiner brachialen Zärtlichkeit. Bereits zwei Jahre vor meiner Geburt wurde dieser Gedichtband veröffentlicht und ich erkenne einen Brutalismus im Sprechen, der ganz feine Unterschiede im Denken offenbart. Was Worte lenken, wie sich Menschen verhalten, wie Dichter*innen schreiben. Ludwig Fels verstarb 2021, erst dadurch hab ich ihn kennengelernt. Ich lese Ludwig Fels jetzt. Es geht weiter. Versprengungen bleiben.
Erec Schuhmacher, dass wir es tun im dunkeln, etcetera press, 2021
5 Euro. So viel kosten die Chapbooks von Erec Schuhmacher meistens. Gestaltung, Druck etc. in EigenProduktion. Die kleinen Bücher beschäftigen sich lyrisch wie graphisch mit Themen und poetischen Arbeitsweisen. In diesem geht es um Rausch, Liebe, Sex, das Dunkle, das Dunkle in uns und durch uns. Drogen kommen vielleicht auch vor. Zudem gibt es Chapbooks über Impfungen, mit BGB, aus BGB und übers BGB sowie den Berliner Mietenspiegel. Hier geht’s ab.
Semra Ertan, Mein Name ist Ausländer, edition assemblage, 2020
Wer sich in Hamburg in den 80ern anzündet aus Protest gegen Rassismus und Diskriminierung, der hat einen Platz in meinem Kopf sicher. Die Gedichte sind zweisprachig (türkisch/deutsch) im Band abgedruckt. Es sind keine heimatsehnsüchtigen Gedichte. Es sind Gedichte der Fremde in der Fremde. Gedichte, die mir nah kommen, weil jemand sich selbst verorten will, in einer Fremd-Umgebung und das Ungelingen dessen verarbeitet, ohne es je zu verarbeiten. Diese Gedichte zeigen Mensch-sein in einem System, das den Menschen nur als Zweck wahrnimmt. Ein Aufschrei, eine Rebellion und auch eine offene Hand: Mein Name ist Ausländer.
Lea Schneider, Made in China, Verlagshaus Berlin, 2020
China ist weit und exotisch. Wie darüber schreiben als weiße Person deutschen Ursprungs? Mit Wissen! Mit Hinweisen! Mit Brotkrummen! Lea Schneider studierte Komparatistik, Soziologie und Sinologie. Sie weiß. Sie weiß, wie schwer es ist, aus unserer Perspektive über eine ferne Kultur zu schreiben und so sind diese Texte ein Kaleidoskop ihrer Erfahrungen und Begegnungen in China. Direkte Begegnungen mit Chines*innen und mit literarischen, wissenschaftlichen Texten. Die Texte sind ein Netz aus subjektiver, zeitgenössischer Erfahrung, Reflexion, wissenschaftlichen Arbeiten, Essays und Gedichten. Die Verweise sind wichtig, denn hier guckt nicht einfach eine weiße Person nach China, hier versucht sich jemand in China zurechtzufinden und zeigt uns sehr genau, wie das subjektiv von statten gehen kann.
Athena Farrokhzad, Bleiweß, kookbooks, 2019 (übersetzt von Clara Sondermann)
Gedichte, die alle verhandeln, was in der Familie so gesagt wird. Die Mutter sagt, der Vater sagt, der Bruder sagt, die Großmutter sagt. Was sagt das ICH in der Familie? Es wird praktisch nicht herausgearbeitet, sondern forciert, dass man selbst Stellung bezieht. Die Familie von einer Fluchtbewegung getrieben ist in Schweden und das steht nicht im Vordergrund des Bandes, doch ich habe glaube ich anhand meiner Bio auch Momente der Bewegung entdeckt, die eigentlich längst abgeebbt sein sollten. Farrokhzad schreibt so klug: „Mein Bruder sagte: das Vergangene ist ein Übergriff, der niemals aufhört“
Ianina Ilitcheva, ich sehe die einsamkeit vor mir und sie ist leicht, (hrsg. V. Rick Reuther) hochroth München, 2018
Ich habe diesen Menschen einmal getroffen, lesen gehört und die Stimme und die Stimme der Texte nicht mehr vergessen. Das ist mutige Fragilität, die sich an die Front der Menschlichkeit traut. Hier wird sich bekannt, sich offenbart, sich ausgestellt und diese Texte fordern mich gerade dazu auf: mich auch aufzustellen: ich bin hier! Ich bin der und diese. Ich sehe die Einsamkeit vor mir und sie ist leicht, so ein leichtes Buch, so leicht zu lesen, so voller Grazilität im Straßenleben und so viel Grobschlächtigkeit im eigenen Schlafzimmer. Nackt sind die Texte und sie halten warm.
Marcel Beyer, Dämonenräumdienst, Suhrkamp, 2020
Peter-Huchel-Preis. Ist einfach so ein Buch zu loben, dass schon bepreist wurde. Aber ich finde es unheimlich schön. Unheimlich ist das richtige Wort. Die Gedichte sind wie Passanten, die an einem Vorübergehen und augenblicklich abgründig werden. Und dann sind sie schon wieder vorüber. Und dann fragt man sich: wars das? Und dann bleibt das Gedicht, das Gefühl, das Wortspiel erhalten. Denn die Sprache, die dafür verwendet wird, ist schön. Einfach simpel und in ihrer Kombination werden sie so schön wie abgründig.
Gerald Fiebig, motörhead klopstöck, Parasitenpresse, 2020
Politische Lyrik, die Hoch- und Popkultur immer in Anwesenheit denkt. Motörhead spielen ein Stück von Klopstöck. Und gutural könnte man sagen. Die Gedichte sind gesprochene Werke. Ich empfehle alle Gedichte sich selbst mal laut vorzulesen. Aber diese hier sind zusätzlich getrieben vom Klang. Spoken Word ohne Slamcharakter. Hier geht jemand unseren politischen Machenschaften auf den Grund. Und hört dabei gute Musik.
Dinçer Güçyeter, Mein Prinz, ich bin das Ghetto, Elif Verlag, 2021
Gedichte, die persönlich sind, ausgefallen, wütend, einfühlsam, einen gern an die Hand nehmen und vor die Frage stellen: warum sind die NSU Akten noch so lange unter Verschluss? Fragen der Herkunft wird nachgegangen in der Retrospektive der Elternliebe, Aufbruch und Aufprall, zwischen Dort und Gay-Sauna, zwischen Anatolien und deutscher Fabrik. Kultur trifft Menschlichkeit, ein Duell – wer bleibt? Bleibt überhaupt etwas über, wenn wir dieses Duell zulassen? Ein Buch, das nicht zu bestechen ist.
Swantje Lichtenstein, Am Ende Der Weißheit/ Verschalte Verbindungen, Verlagshaus Berlin, 2021
Ein Doppelalbum aus zwei Konzeptalben. Swantje Lichtenstein spricht. Sie nimmt das alltäglich gesprochene und versucht neue Verbindungen zu schaffen. Bedeutungen zu verschieben. Performative Writing ist der Untertitel. Aktion in der Sprache. Immer ein Experiment. Und das sind gewagte Versuche. Am Ende Der Weißheit ist der Versuch mit dem eigenen Weißsein klarzukommen, es überhaupt erstmal zu verstehen, auch in ganz gewöhnlichen Sprechsituationen. Das Poetische wird politisch verstanden. Ist das Politische poetisch?
Rosa Pock, Ein Halbjahr aus dem Leben einer Infantin, Drosch Verlag, 1995
Bücher in denen ein Narr vorkommt, schaffen es immer sofort in mein Herz. Die meisten bleiben dort auch. Ich glaube dieses wird dort lange schaukeln. Als ich vier Wochen in Prag war, fand ich dieses Buch ausgesondert im Österreichischen Kulturzentrum. Jetzt ist es meins! HA! Große Texte, die daherkommen, als wären sie kleine Notate zu 181 Tagen. Nö. Die Texte sind Offenbarungen und Gefährdungen. Und zwar mehr der Sprache als einer definitiven Person – habe ich den Eindruck. Was hier zu Wort kommt ist wichtiger, als wer zu Wort kommt. Aber dazu gibt es ja noch den Narren, eine Nebenfigur, die selbst nicht zu sprechen braucht. Wie sie angesprochen wird, sagt alles. Wer die Infantin ist? Vielleicht wir? Eines ist dieses Buch sehr wahrscheinlich. Das Eigensinnigste, das ich dieses Jahr gelesen habe. Ist das Prosa? Ist das Lyrik? Egal. Ist gut. Gut.